Falsch abgebogen? Hier ist der Planet Erde - Gespräch mit einem Asperger Autisten über Taijiquan

29.08.2014

Von Annemarie Leippert

Asperger Autismus stellt für Betroffene eine starke Beeinträchtigung dar, vor allem für den Umgang mit den Menschen um sie herum. Oft fühlen sie sich wie "Außerirdische auf einem fremden Planeten". In einem Gespräch wird der positive Einfluss des Taijiquan Trainings auf diese Problematik dargestellt. Mein Gesprächspartner möchte dabei jedoch anonym bleiben, da es sich hier um sehr persönliche Schilderungen handelt.

Du bist jetzt schon seit einigen Jahren Schüler in der Pagode. Was hat Dich dazu bewogen mit Taijiquan zu beginnen?

Die Neugier. Als ich anfing hatte ich im Grunde keine Ahnung, was Taiji wirklich ist. Ich hatte während des Studiums kurz mit asiatischen Kampfkünsten Kontakt gehabt und das hatte mir gefallen, aber sonst hatte ich überhaupt keine Ahnung.

Du bist mit besonderen Voraussetzungen zu uns gekommen, die sowohl uns als Lehrer und Mitschüler als auch Dich selbst vor eine ziemliche Herausforderung gestellt haben. Kannst Du uns ein bisschen dazu erzählen?

An dieser Stelle erst einmal Danke, dass Ihr es mit mir ausgehalten habt. Ich bin Asperger Autist, wurde aber erst im Erwachsenen Alter diagnostiziert. Mir fehlt der natürliche Filter, der es anderen erlaubt irrelevante Informationen auszublenden und Informationen richtig einzuordnen - gerade so Dinge wie Mimik, Ironie, etc. bedeuten für mich Schwerstarbeit, die ich hart üben und lernen muss.

Bevor ich zum ersten Training kam, hatte ich Herrn Stubenbaum per email kurz geschildert, dass ich mir mit Fremden und Neuem ziemlich schwer tue ohne die Krankheit zu erwähnen, seine Antwort war das wäre schon in Ordnung und in der Schule wären viele nette Leute, ich solle doch einfach mal vorbei kommen. "Taijiquan stellt sicher eine gute Disziplin dar um für sich so manches zu entdecken".

Als ich in "Die Pagode" kam, war ich dann aber die ersten Monate mit den vielen mir fremden Menschen, dem neuen Raum, den vielen Bewegungen etc. total überfordert, so dass ich ständig verkrampfte und mich in eine Ecke zurückzog um der Informationsflut zu entfliehen.

Ich kann mich noch gut an den ersten Tag erinnern an dem Du zu uns kamst, und ich Dir die Basisbewegungen zeigen sollte. Schon nach den ersten Minuten war mir klar, dass das eine Herausforderung werden würde. Man durfte sich Dir maximal auf einen Meter nähern und Dich auf keinen Fall berühren, Du wirktest angespannt und furchtsam. Eine schnelle Bewegung lies Dich zusammenzucken und die Arme in Abwehr hochreißen. Ehrlich gesagt ich fühlte mich leicht überfordert, da ich bisher auch nie etwas über Asperger gehört hatte. Was bewog Dich damals trotzdem weiterzumachen?

Nun ich denke wir mussten alle sehr viel lernen und ich bin froh dass ich die Chance bekam. Was mich bewog weiterzumachen. Ich denke genau kann ich es nicht sagen und ich war auch mehr als einmal kurz davor aufzuhören. Als erstes die Tatsache, dass keiner groß Aufheben um die Andersartigkeit gemacht hat, ich hasse es wenn Leute mich mit Samthandschuhen anfassen oder auf einen mit 1000 Fragen einstürmen. Und dann natürlich die Bewegung selber, ich liebe Kreise und alles was rund ist. Als letztes kommt dann noch die Tatsache dazu, dass man die ersten Monate sich erst einmal nur mit sich selber beschäftigen darf ohne großen Körperkontakt, welcher ja eine zusätzliche Informationsflut bedeutet.

Du sagst dass Dir Kreise besonders gut gefallen. Geht das allen Aspergern so?

Vielen. Kreise haben etwas Beruhigendes und Faszinierendes - sie haben keinen Anfang und kein Ende. Kreise bzw. Rundungen sind auch in der Natur sehr häufig ... man nehme einen Apfel oder eine Tomate, oder auch die Planten und Sonnensysteme - OK unsere Planeten laufen auf Ellipsen aber auch die sind nur lang gezogene Kreise...in einem Kreis wirken an allen Stellen die gleichen Kräfte zum Zentrum hin. Mindestens genauso faszinierend ist die Kreiszahl Pi, die bis heute obwohl auf über 1 Millionen Nachkommastellen berechnet wurde noch keine Periodizität aufweist! Zu gut Deutsch ich kann mir nicht vorstellen, wie man nicht davon fasziniert sein kann.

Was fasziniert Dich noch am Taijiquan und mit welchen Aspekten daran kommst Du nicht zu recht?

Faszinieren tut mich die Ganzheitlichkeit, auch wenn es anfangs sehr schwer war mich auf die vielen neuen Begriffe und Denkweisen einzulassen, das hat wie Du weißt so manche lange Diskussionen gebraucht. Schwierig ist es vor allem wenn es um Sachen der Wahrnehmung geht, da meine Wahrnehmung sich manchmal deutlich von Eurer unterscheidet, so dass ich manche Begriffe erst mühsam in meine Wahrnehmung übersetzen musste und es gibt auch heute noch Begriffe, die nur theoretisch in meinem Wissen vorhanden sind, aber noch kein Pendant in meiner Wahrnehmung haben.

Während mir die Formen von Anfang an gefallen haben, ist Tuishou (oder schiebende Hände) nicht so wirklich meins - Berührungen bedeuten zusätzliche Informationen und somit Stress, so dass es sehr, sehr schwer ist die Prinzipien umzusetzen.

Auch Waffenformen stellen für mich eine neue Herausforderung dar ... erstens weil die Waffe in den Händen der Mitschüler eine neue Informationsquelle ist, die ich aber nach einer Weile ziemlich gut in Griff bekomme aber zweitens und das trifft vor allem auf Schwert und Säbel zu, weil die Klingen bei punktuellen Lichtquellen wie Fensterfronten bei hellem Sonnenschein oder Deckenbeleuchtung, durch die Rotation ständig irgendwo Reflexionen erzeugen, was besonders in "Spiegelsälen" ein regelrechtes Informationsgewitter auslöst.

In der ersten Zeit, als Du die Formen gelernt hast, musstest Du immer aufhören sobald wir die Richtung änderten und Du dem Rest der Gruppe den Rücken zukehren solltest. Heute ist das nicht mehr so. Das ist nur ein Beispiel für eine Veränderung die mit Dir stattgefunden hat. Kannst Du uns beschreiben was sich in den letzten Jahren alles für Dich verändert hat? Nicht nur in Bezug auf das Training sondern auch in anderen Bereichen?

Im Grunde sehr viel.
Erst einmal zum Aufhören bei Richtungsänderungen, da das für viele Leute wahrscheinlich nicht verständlich ist. Wenn man sich dreht ändert sich die Blickrichtung, d.h. die Informationen die auf einen einströmen.
Gleichzeitig ändert sich aber auch die eigene Position gegenüber anderen Personen, so dass die von diesen Personen ausgesendeten Informationen sich verändern - sind die Personen vor einem sind die Informationen eher visuell, sind sie hinter einem geht alles über das Gehör, teilweise je nach Boden auch über Vibrationen etc. d.h. die Art der Informationsverarbeitung muss jedes Mal neu angepasst werden.

Etwas was bei vielen Menschen automatisch funktioniert, ich aber erst einmal schrittweise lernen musste. Dadurch war ich gezwungen neue Strategien zur Informationsverarbeitung zu lernen, welche ich versuche, auch im Alltag umzusetzen, um so den Trainingseffekt zu erhöhen. Der erste Fortschritt ist, dass ich nicht auf jede kleinste Veränderung mit einer Abwehrreaktion reagiere, wodurch sich das Verhältnis zu meiner Umwelt immer mehr entspannt. Dadurch gewinne ich auch immer mehr an Selbstsicherheit, wodurch die Kommunikation mit meinen Mitmenschen leichter wird. Ungeplante und komplett neue Situationen überfordern mich aber immer noch restlos, dann merkt man mir den Asperger an.

Aus unserer Wahrnehmung heraus zeigt sich bei Dir allerdings eine wirklich erstaunliche Veränderung ab. In der ersten Zeit hast Du Dich praktisch ständig in hockender Position in die Ecke verkrochen, heute kommt das nur noch selten vor, und auch nur dann wenn wir an einem ungewohnten Ort trainieren. Wir mussten ein Gefühl dafür entwickeln wie lange wir Dich dort in Ruhe lassen sollten, und wann wir Dich dort wieder herausholen konnten um weiter zu trainieren.

Das Krampfen hat deutlich nachgelassen, in letzter Zeit habe ich das gar nicht mehr bei Dir gesehen (für die Leser: dabei verkrampfen sich die Hände zu Fäusten und lassen sich nicht mehr öffnen).

Früher musste ich dafür sorgen, dass Dir die Mitschüler Raum lassen, also Abstand zu Dir halten. Es gibt Personen die nehmen solche Dinge gar nicht wahr und dann muss man ein bisschen eingreifen. Heute kommt das eher seltener vor, nur ab und zu wenn neue Leute hinzukommen, und bei etwas unsensiblen Menschen, die gar nicht mitbekommen dass Du mit ihrer Nähe ein Problem hast.

Anfassen und damit die Körperausrichtung korrigieren war nicht möglich, das konnte nur verbal erfolgen. Heute kein großes Problem mehr. Als das Anfassen nach und nach möglich war reagiertest Du mit Gegenspannung und Verkrampfung, heute schaffst du es nachzugeben, und Dich ausrichten zu lassen.

Tuishou war überhaupt nicht möglich, und auch wenn es Dir noch schwer fällt, Du kannst heute sogar mit völlig fremden Leuten Tuishou üben.

Eine Schwierigkeit ist immer noch, dass Du von selbst nicht sagst wann Du genug hast, sondern wir müssen erkennen wo die Grenze erreicht ist. Das ist Anfangs natürlich ein wenig schief gegangen, und Du warst oft überfordert. Inzwischen haben wir denke ich ein recht gutes Gespür dafür entwickelt.

Da Deine Wahrnehmung etwas anders geartet ist als unsere, Du kannst ja z.B. warm und kalt nicht unterscheiden, kann der Unterricht auch nicht auf Gefühl aufgebaut werden, sondern eher auf logischen Erklärungen. Nicht so ganz einfach auf den wichtigen Faktor Gefühl im Taijiquan verzichten zu müssen. Wir müssen spezielle Strategien für Dein Verständnis der Dinge entwickeln.

Du gehst heute auch viel gelassener auf Deine Mitschüler zu und sprichst mit ihnen, am Anfang hast Du Dich eher zurückgezogen.

Im Grunde hat sich alles entspannt zumindest was das Training in der Pagode betrifft. Du arbeitest ja als Ingenieur in einem großen Unternehmen, bekommst Du dort oder auch in Deiner privaten Umgebung Feedback zu den Veränderungen an Dir?

Ja und das ermutigt zusätzlich. Wer mich heute in einer normalen Situation trifft muss genau hinschauen um festzustellen, dass ich Asperger bin, wodurch vieles unkomplizierter wird. Nicht, dass ich immer alles richtig einordnen kann und manches geht noch daneben, aber ich habe so viel dazu gelernt, dass es für Außenstehende nicht mehr gleich sichtbar ist, jetzt kann ich entscheiden, ob und wann ich jemandem sage, dass ich Asperger bin, vorher war es unmöglich. Aber auch von Kollegen und langjährigen Bekannten bekomme ich das Feedback, dass der Umgang mit mir unkomplizierter geworden ist.

Was würdest Du jemandem raten, der Asperger unterrichten möchte?

Wir Asperger sind sehr unterschiedlich sowohl im Grad der Behinderung als auch in unseren Fähigkeiten und in der Wahrnehmung, d.h.es gibt kein allgemeingültiges Konzept für das Training von Aspergern!

Asperger zu trainieren bedeutet, sehr viel mehr Aufwand als "normale" Menschen zu trainieren, das kannst Du gewiss bestätigen. Die ersten Monate und Jahre müssen Fragen und Zweifel beantwortet werden die "normale" Menschen so gewiss nie stellen. Da es immer wieder zu "Extremsituationen" für den Asperger kommen kann, sollte eine sehr sichere Atmosphäre geschaffen werden, nur so ist es möglich in kleinen Schritten die von Aspergern geliebten Routinen und immer gleichen Abläufe zu durchbrechen, was aber auch die Bereitschaft des Schülers voraussetzt. Wie Du schon sagtest einen Asperger zu unterrichten, stellt eine andere Herausforderung dar, die nur gelingt wenn der Lehrer extrem sensibel und flexibel ist. Ohne einen reichhaltigen Erfahrungsschatz und ein großes Wissen über das Taijiquan wird es nicht gelingen, das Training individuell auf die besonderen Bedürfnisse des Asperger Schülers anzupassen.

Ich danke Dir für dieses offene Gespräch. Zum Abschluss möchte ich sagen, dass wir sehr froh sind Dich in unserer "Pagode-Gemeinschaft" zu haben. Das Aspergertum ist nur ein kleiner Teil von Dir, der einfach dazu gehört, der Rest ist ein mitfühlender, warmherziger und hilfsbereiter Mensch, den man nicht missen möchte.

Foto oben: Darstellung der Rückzugsposition wenn die Informationsmenge für den Asperger zu groß wird.