Die Dachziegel-Hand (Walongzhang 瓦壟掌)
Im Taijiquan hat die korrekte Handform eine sehr wichtige Funktion. Schenkt man ihr zu wenig oder gar keine Beachtung, wird man Taijiquan nie subtil und tiefgründig verstehen oder anwenden können. Im Taijiquan werden die Hand und die Finger auf verschiedenste Weisen bewegt und genutzt, um das im eigenen Körper entwickelte "Jin 勁" zu übertragen, oder auch um das "Jin" einer anderen Person wahrzunehmen "Tingjin 听勁
", um dadurch in der Lage zu sein diese zu kontrollieren.
In diesem Artikel widme ich mich der Beschreibung der Dachziegel-Hand oder Chinesisch "Walongzhang". Sie ist die Grundform der Handhaltung im Kleinen Rahmen des Chen-Taijiquan und hat deshalb eine entsprechend große Bedeutung für die Taijiquan-Praxis.
Zu den großen Missverständnissen in der Praxis des Taijiquan gehört es, dass das Grundprinzip der Tiefenentspannung bzw. "Fangsong 放鬆" mit Schlaffheit verwechselt wird. Diese falsch verstandene "Entspannung" drückt sich in einem schlaffen statt entspannten Körper, und damit auch in einer schlaffen Handhaltung aus.
Um "Fangsong", d. h. tiefe, echte Entspannung im Körper zu erzeugen, benötigt man eine spezifische Kraft gekoppelt mit einer inneren Ausdehnung, genannt "Peng". Diese Kraft wird nicht in der für die Bewegung der Gliedmaßen zuständigen Muskeln aufgebaut, sondern in den Muskelansätzen, der tiefen, am Knochen anliegenden Muskulatur und vor allem den Sehnen. Diese Kraft ist nicht starr und unbeweglich, sondern weich und elastisch.
Mit einer schlaffen Handhaltung kann die innere Spiralverbindung (Bild: gelbe Spirallinie) und Bewegung des Körpers, das "Jin" nicht bis hinaus zu den Händen geleitet werden. Als Folge davon kann sie auch nicht für die Kampfanwendung genutzt werden.
Genauso wenig darf jedoch im Handgelenk eine Blockade für den Fluss von "Qi 氣 " und "Jin" erzeugt werden, indem man es zu sehr abknickt. Hierbei entsteht ein Bruch in der Verbindung der inneren Spiralbewegung; sie kann so vom "Dantian 丹田 " aus nicht mehr hinaus zu den Fingern geleitet und für die Kampfanwendung genutzt werden.
Die Hand ist über die Verbindung mit dem gesamten Arm spiralförmig im "Shunchan 順纒 " (mitläufig/Kleinfinger-Drehung) oder "Nichan 逆纒" (gegenläufig/Daumen-Drehung) eingedreht.
Die Grundform der Handhaltung im Taijiquan entspricht, wie der Name schon sagt, der gewölbten Form eines chinesischen Dachziegels bzw. Wǎ (瓦 ).
Alle Finger werden ausgehend von der Muskulatur des gewölbten Handtellers (Bild: blauer Doppelpfeil) sanft gestreckt, die Glieder werden mit Hilfe der Vorstellung "Yi 意
" sanft voneinander getrennt (Bild: grüne Doppelpfeile). In der Hand entsteht "Peng" die innere Ausdehnung die auch im restlichen Körper vorhanden sein muss.
Paarweise nehmen Daumen und kleiner Finger sowie Zeigefinger und Ringfinger eine imaginäre Verbindung zueinander auf (Bild: gestrichelte rote Linien). Sie bündeln sich, wobei alle Finger einen kleinen Abstand zueinander wahren müssen und nicht etwa aneinander "kleben" dürfen. Der Mittelfinger bildet in dieser Konstellation den Fokus nach Außen und den Ausläufer der Mittelachse des Armes bezüglich der Spiralbewegung.
Das "Yi", d. h. die Aufmerksamkeit bzw. der Fokus, wird auf die Fingerbeeren (Bild: rote Punkte) ausgerichtet; "Jin 勁
", "Qi 氣
" und "Yi 意" sollen über die Fingerspitzen hinaus gelangen (Bild: rote Pfeile). Gleichzeitig werden Arme und Schultern losgelassen, sie werden schwer. Über sie wird in der Kampfanwendung dem Gegner die Schwere des eigenen Körpers aufgebürdet, um ihn über diese Schwere zu bedrängen und zu kontrollieren.
Diese wichtigen Grundprinzipien gelten in abgewandelter Form für alle anderen Handformen, die im Taijiquan genutzt werden; z. B. wenn eine Faust gebildet wird, beim Bewegen der Finger oder wenn andere Handformen zum Einsatz kommen.
Eine korrekte Handform ist auch zwingend notwendig um in den vollen Genuss der gesundheitsfördernden Eigenschaften des Taijiquan zu kommen, die nur durch das Zusammenspiel von "Jin", "Qi" und "Yi" bewirkt werden.
von Annemarie Leippert
Quelle: Der Unterricht bei Dietmar Stubenbaum über die Taijiquan Theorie nach Chen Xin.
Quelle: Die Lehren von Dietmar Stubenbaum
- 11. Generation Chen Taijiquan Dajia und 13. Generation Chen Taijiquan Xiaojia.
- Präsident der "International Society of Chen Taijiquan ISCT" (der weltweiten gemeinnützigen Organisation der Meister Chen Peishan und Chen Peiju, 20. Generation des Chen Clans).
- Vorstand der "Gesellschaft zur Erforschung und Praxis des Kleinen Rahmen Chen Clan Taijiquan e. V." in Deutschland.
- Herausgeber der kommentierten und erklärten Veröffentlichung von Chen Xins Meisterwerk "Kommentare zu den grafischen Erläuterungen zum Taijiquan des Chen-Clans" in Deutschland.
Geschrieben von Annemarie Leippert
- Seit 1998 Schülerin von Dietmar Stubenbaum, lizenzierte Lehrerin in seiner Tradierungslinie, sowie lizenzierte Lehrerin der ISCT..
- ISCT Director Germany/Spain